Agile Führung – Welche Fragen stellen sich?
08.10.2018, Winald Kasch
Organisationen sind dazu da, Probleme zu lösen. Und um die Probleme von Organisationen in Zeiten von Dynamik, Komplexität und Überraschungen besser zu verstehen, hilft es, ihnen gründlich auf den Grund zu gehen. Denn sie sind tückisch.
Probleme von Organisationen entstehen, wenn Einflüsse von außerhalb nicht ignoriert werden können. Würde man sie ignorieren, dann nähme die Organisation Schaden. Man kann sich hier z.B. Kundenwünsche vorstellen. Oder Wettbewerber, die einem Marktanteile strittig machen. Oder Geschäftspartner, die plötzlich die gleichen Interessen, wie man selbst verfolgen. Man kann aber sich aber auch Fachbereiche vorstellen, für die man tätig ist, die laufend neue Anforderungen haben. Die die Freiheit haben, sich auch am externen Markt nach passender Leistung umzuschauen. Und die, wenn man sie exzellent bedienen würde, im kommenden Geschäftsjahr mehr Aufträge vergeben.
Probleme erkennt man daran, dass sie nicht einfach weggehen. Sie kommen wieder, wenn man sie nicht gelöst hat. In diesem Sinne haben Organisationen zwei Arten von Problemen. Probleme, die durch den Mangel an Wissen entstehen. Z.B. das Problem, Daten aus Altsystemen in das neue System der Herstellers XY zu migrieren. Oder das Problem, einen Formularantragsprozess von Papier auf IT umzustellen. Und Probleme, die durch den Mangel an guten Ideen entstehen. Z.B. das Problem, eine IT-Plattform zu schaffen, die einerseits standardisiert und stabil ist und andererseits hochflexible Entwicklung von Services und Produkten ermöglicht. Oder die Frage, wie das neue Produkt im neuen Kundensegment am besten zu verkaufen ist.
Um diese Unterscheidung klarer zu machen, lasst uns eine weitere Unterscheidung treffen. Es gibt in Organisation Probleme und Sachverhalte, die wir als kompliziert bezeichnen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine bekannte Ursache-Wirkungs-Beziehung haben. D.h., man kennt die Zusammenhänge derart, dass sich z.B. Maschinen und IT-Systeme bauen lassen. Selbst, wenn man selbst nicht weiss, wie ein Computer im innersten funktioniert, gibt es aber Menschen, die das Wissen haben und in der Lage sind, Computer immer wieder die gleichen Dinge verlässlich und garantiert ausführen zu lassen. Sind Sachverhalte kompliziert und damit grundsätzlich verstehbar, dann lassen sich auch verlässliche Planungen und wiederholbare Arbeits-Prozesse gestalten. Die Grundlage ist Wissen. Und daher kann es ab einem gewissen Punkt trivial sein, kompliziertes zu lösen. Es muss das „lediglich“ Wissen organisiert werden.
Aus diesem Verständnis heraus haben sich auch die passenden Organisationsinstrumente gebildet. Z.B. Planungen, die über einen längeren Zeitraum, z.B. für ein Geschäftsjahr oder darüber hinaus, angelegt werden. Diese Planungen betreffen Ziele, die zu erreichen, und Budgets, die einzuhalten sind. Aber auch die Erfindung des Managements ist hier einzuordnen. Jemand muss die Pläne, Zielsetzungen und Budgets herunterbrechen und kontrollieren, ob sie eingehalten werden. Bei Abweichungen muss dann (gegen-) gesteuert werden. Man kann sagen, dass komplizierte Probleme mehr als eine Generation von Unternehmen geprägt haben. Und Unternehmen dafür nachweislich erfolgreiche Strategien und Vorgehensweisen entwickelt haben. Es gibt nun aber auch Probleme und Dinge, deren Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge unbekannt sind. Diese nennen wir komplex. Es hängt nicht alles mit allem zusammen und es lässt sich nicht genau vorhersagen, was passieren wird, wenn man dies oder das tut. D.h., der Überraschungsfaktor ist groß.
Als Organisation mit Komplexität und hoher Dynamik erfolgreich umzugehen, bedeutet, dass man sich mit einer Vielzahl von Überraschungen auseinandersetzen muss. Da kommen vermehrt Probleme auf einen zu, die, sollte man sie ignorieren, der Organisation Schaden zufügen können. Und wenn man mit Überraschungen erfolgreich umgehen will, dann braucht man eine Organisation, die wiederum in der Lage ist, Überraschungen zu erzeugen. Sie muss überraschende Antworten auf komplexe Frage erzeugen. Und hier biegen wir mal zum Thema Führung ab.
Wir erleben oft, dass Führungskräfte in komplexen, dynamischen Situation
- Steuerung anwenden, wo Führung gebraucht wird
- Genauere Jahrespläne entwerfen, anstatt sich auf Unplanbarkeiten vorzubereiten
- Redundanz vermeiden wollen, anstatt Varianz und Vielfalt zu fördern
- Standards etablieren wollen (Agil ist jetzt der neue Standard), anstatt auf Differenzierung zu setzen
- Schuldige gesucht (und gefunden) werden, anstatt die Fehler des Systems zu beheben
- Agilität „eingeführt“ wird, aber die Ressourcenallokation im Top-Management bleibt
- Einzelleistung verstärkt gemessen wird, statt ausschließlich auf Teams zu setzen
- Mitarbeiterzufriedenheit zu einer Tugend machen, anstatt gezielt für Störung von Komfortzonen zu sorgen
Kurzum: Es wird nicht erkannt, dass die Probleme, die eine Organisation unter erhöhter Dynamik hat, hohe komplexe Anteile haben. Daher wird auf Bewährtes in Sachen Führung zurückgegriffen. Die über lange Zeit gelernten Organisationsreflexe sind schlichtweg nicht kompatibel zum Problem.
Was macht es eigentlich so schwierig moderne Führungsansätze in die Praxis zu bringen?
- Führungskräfte kommen auf die Idee in Gefahr zu sein, sollten Agilität und Selbstorganisation der neue Standard werden. Sie sehen sich als die Verlierer
- Man kann sich nicht vorstellen, dass man die richtigen Mitarbeiter hat; nicht jeden hält man für geeignet, in autonomen, cross-funktionalen, selbstorganisierten Teams zu arbeiten
- Moderne, agile Führung wird eher in der Mitte der Hierarchie implementiert; das Top Management arbeitet gefühlt weiter wie bisher
- Neue Führungsansätze werden nicht als gleichwertig zu bestehenden gesehen; man befürchtet Benachteiligungen
- Führungskräfte werden vor allem in Bezug auf das Controlling und andere Konzernprozesse immer wieder mit den eigentlich herrschenden Regeln konfrontiert und müssen sich mühsam Umwege und Trampelpfade ausdenken; man soll einerseits Überraschendes entstehen lassen, anderseits aber sagen wann das fertig ist und was das kostet
Aber das genannte sind nicht die eigentlichen Probleme. Es ist eigentlich eher symptomatisch für Organisationen, die sich mit Komplexität auseinandersetzen müssen.
Man kann die Aufgabe von moderner Führung unter hoher Dynamik mit folgendem Bild vergleichen: Stellt euch vor ihr spielt American Football. Ein sehr gut gesteuerter Mannschaftsport mit hohen Spezialisierungsgraden, einer Unmenge einstudierter Spielzüge, um alle denkbaren Aktionen und Reaktionen des Gegners beantworten zu können. Die Aufgabe, mit der man moderne Führung vergleichen kann, ist die Umstellung des Spiels auf Soccer/Fussball. Während das Spiel läuft.
Ausgangspunkt für das eigentliche Problem ist, dass es Verhältnisse gibt, die die ein passendes Verhalten erzeugen. Wir sagen auch gerne: … die Verhalten provozieren. Man kann gar nicht anders, als sich so oder so zu verhalten. (Dabei hilft es, dass wir Menschen wie kaum ein anderes Lebewesen hochgradig anpassbar sind.) Die herrschenden Verhältnisse machen es einem schwer, moderne, agile Führung entstehen zu lassen. Das führt auch dazu, dass man die Dinge nicht beim Namen nennen kann. In vielen Organisationen ist es einfach nicht schlau, sich auf moderne Führung einzulassen. Denn man muss sich Fragen stellen und stellen lassen, die als heikel empfunden werden. Man braucht Mut und eine hohe Autonomie. Aber das hält nicht jeder lange durch. Und Maßnahmen, die gezielt das Verhalten ändern sollen, übersehen, dass Organisationssysteme stärker sind. (Culture eats strategy for breakfast, Peter Drucker.)
Was können Führungskräfte also heute tun, um die richtigen Verhältnisse zu schaffen?
Sie müssen sich gemeinsam den harten Fakten (aka beschriebenen Strukturen) zuwenden, nämlich erkennen und verstehen, wo die Organisation in der Lage ist, sich strukturell zu verändern und wo nicht:
- Welche Entscheidungen und Kommunikationswege können grundsätzlich verändert werden? Welche lässt man eher ungeregelt, sondern lässt sie wertebasiert entstehen? Wie ist das mit Kommunikationswegen? Was muss von wem muss kommuniziert werden? Und was soll sich lieber selbst kommunizieren?
- Strategien nicht als Pläne verstehen, sondern als Räume, die durch Optionen gebildet und mittels Prinzipien begrenzt werden. Unter verstärkter Dynamik geben Strategien keine Antworten, sondern stellen Fragen
- Wo es komplex wird, Partizipation erzeugen, Annahmen treffen und Experimente wagen, und nicht versuchen, das zu steuern
- Es gilt, darauf hinzuwirken, dass vermehrt die Dinge beim Namen genannt werden können. Und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass man dabei keine Sorgen haben muss
Agile, moderne Führung braucht eine viel differenziertere Sicht auf das „Führungsproblem“ als das bisher der Fall war. Es gilt Führung nicht als ein anzustrebendes Stellenmerkmal auf dem Karriereweg zu sehen. Unter Dynamik braucht es mehr Führung im Sinne von Leadership. Also dem Phänomen, dass Teams jemandem folgen, den sie für die aktuelle Problemlösung für die kompetenteste Person halten. Leadership lässt sich nicht beibringen. Und es braucht moderne Konzepte zur „Karriereplanung“, die sich abkehren von der exklusiven Wichtigkeit sog. disziplinarischer Führung. Denn unter Dynamik geht es weniger um Disziplin. Es geht darum, Probleme zu identifizieren, transparent zu machen und Prolemlöser_Innen entstehen zu lassen, die die Führung übernehmen können.
Ein Weg dorthin kann sein, dass Führungskräfte die Probleme, die sie haben, gegenüber Mitarbeitenden nicht schön reden, aus Angst, man könnte diese verschrecken. Sondern vielmehr dafür sorgen, dass Probleme beschrieben werden, so dass Problemlöser_Innen sich derer annehmen können.
Enjoy the change!...
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