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Antipattern: Rekrutierung

03.03.2017

Das Gespräch mit Paula Pusch, im HR-Bereich für das Thema Employer Branding verantwortlich, stand bevor und Torsten Nadolny, Head of Sales bei der superfuncompany, musste an das Gespräch mit seiner Frau Ramona am Valentinstag denken. Sie hatte ihm da durchaus die Augen geöffnet: Die ganze Fassade der Außendarstellung nützt nichts, wenn der Inhalt nicht stimmt. Wenn die Realität meilenweit hinter dem Versprechen hinterher hinkt. Und irgendwas stimmte nicht im Vertrieb. Warum sonst die unverhältnismäßig vielen Kündigungen? Und warum war es so schwer, gute neue Leute zu finden?

Sie hatten sich in einem Restaurant in der Nähe verabredet. Da sie nur eine gute Stunde Zeit hatten, kam Torsten nach einer kurzen Begrüßung gleich auf den Punkt: „Paula, ich habe das Gefühl, wir müssen unseren gesamten Bewerbungsprozess mal auf den Prüfstand stellen. So wie bis jetzt, das läuft doch nicht. Oder wie siehst Du das?“

Paula fühlte sich etwas überrumpelt. Und die unverhohlene Kritik am Bewerbungsprozess, für den sie ja mit den HR-Kollegen verantwortlich war, blieb ihr auch nicht verborgen. Also spielte sie erstmal auf Zeit: „Was läuft denn nicht, Torsten? Was meinst Du genau?“

Torsten brachte es direkt auf den Punkt: „Im Grunde doch fast alles. Alleine schon die ganze Bedarfsplanung mit Budgets, Headcounts und Planstellen. Das frisst unendlich viel Zeit. Und wir planen, was sich so gar nicht planen lässt. Am Ende kommt es doch immer anders. Also, was soll der Quatsch?“ Paula wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie zögerte: „Aber wir müssen doch den Personalbedarf planen, wie soll das denn sonst funktionieren?“

Als hätte Torsten auf diese Vorlage gewartet: „Ja, aber das ist doch der Punkt: Wir setzen Leute auf Stellen und sagen ihnen, was sie tun und lassen sollen. Aber das wird der heutigen Realität doch gar nicht mehr gerecht. Wir unterscheiden zwischen Innen- und Außendienst, aber der Außendienst ist auch 2 Tage die Woche im Haus. Und Innendienstler fahren zu Kunden. Und das ist gut so. Eine richtig gute Idee. Ganz zu schweigen von der ganzen Projektarbeit. Vor allem das große Hot-Air-Strategie-Projekt. Das wird alles immer anspruchsvoller. Und mal ehrlich, viele meiner Leute wollen auch nicht mehr nur eine Sache machen. Die denken größer, breiter, weiter. Die wollen sich aktiv einbringen und gestalten. Ok, nicht alle. Manche wollen nur genau die Schiene fahren, für die wir sie geholt haben. Ich brauche aber auch die anderen, die Multitasker. Leute, die über den Tellerrand blicken und auch mal quer denken. Leute mit kreativen Ideen. Die sich was wagen und auch mal was machen. Von mir aus auch entscheiden. Vor allem, weißt Du was: Unsere Kunden wollen das. Und das ist das Entscheidende! Aber so wie das momentan bei uns läuft, kriegen wir die nie!“

Mit dieser Vehemenz hatte Paula nicht gerechnet. Sie überlegte. Um ein bisschen auf Zeit zu spielen, fragte sie Torsten: „Sag mal, hast Du schon mal von Peer Recruiting gehört?“

Was ist Peer Recruiting?

Der englische Begriff „Peer Group“ bezieht sich auf eine Gruppe gleichen Alters oder gleichen Status. Peer Recruiting ist dann im Unternehmenskontext die Personalauswahl von Kollegen durch Kollegen. Also eben nicht – wie normalerweise bei Neueinstellungen üblich – die Vorauswahl und letztliche Entscheidung durch die Personalabteilung und den direkten Vorgesetzten.

Dahinter steckt die Überzeugung, dass die Einstellung neuer Kollegen von denen vorgenommen wird, die später mit den „Neuen“ zusammenarbeiten und gemeinsam Wert schaffen sollen. Die, die heute wissen, wie die Arbeit am besten gemacht wird. Die, die ohne das Lesen von Profilen und Zertifikaten ein Gespür für das Talent neuer Leute haben. Das bedeutet, dass theoretisch jeder Mitarbeiter Personal(mit)verantwortung trägt oder tragen kann.

Typischerweise ist Peer Recruiting dort anzufinden, wo Unternehmen bereits einen gewissen Grad an Selbstorganisation aufweisen können, dort, wo agiles, selbstorganisiertes Arbeiten keine Fremdwörter mehr sind.

Rolle von HR: Was macht HR dann noch, wenn Recruiting von den Mitarbeitern in den Fachbereichen selbst erledigt wird?

Tatsächlich verändert sich die Rolle von HR hin zu einer prozessbegleitenden und unterstützenden Rolle gegenüber den operativen Bereichen. HR hat dabei auch weiterhin diverse unverzichtbare Kompetenzen im gesamten Bewerbungsprozess, die es beim Peer Recruiting an die Kollegen weiter gibt. Geleitet von der Frage: Was braucht ihr, liebe Kollegen, um erfolgreich einen neuen Mitarbeiter für das Team gewinnen zu können?

Das bezieht sich z.B. auf das zur Verfügung stellen von Verträgen, auf Know-how im Arbeitsrecht, auf Controllinginformationen und auf Sparringgespräche. Ermittlung des Personalbedarf: Wenn Teams in der Arbeit irgendwann zu der Erkenntnis kommen, dass ein Problem nur gelöst werden kann, in dem eine neue Mitarbeiterin eingestellt wird (und nicht durch eine andere/bessere Arbeitsorganisation, denn der Wunsch nach mehr Kapazität ist oft Symptomarbeit), dann wird der Bedarf gemeinsam beschrieben.

Kurz und bündig. Es wird im besten Fall nicht gegen eine Bedarfsplanung abgeglichen, sondern bedarfsgerecht eingestellt. D.h, es geht auch ohne Managemententscheidung los mit der Suche.

Anzeigen & Bewerbung: Stellenanzeigen schalten – ob nun online oder offline – ist ein trivialer Vorgang. Man kann es tun, aber es ist immer mehr reiner Zufall, dass man jemanden mit den richtigen Fähigkeiten, zum richtigen Zeitpunkt und richtigen Preis bekommt. Viel wichtiger ist das Bewusstsein, dass das Suchen nach neuen Kollegen keine Aufgabe ist, die man an HR weiterreicht, sondern dass dies eine Aufgabe für alle ist. Ob in sozialen Netzwerken, auf dem Meetup oder BarCamp, einer Fachmesse oder Konferenz: Alle tragen eine Verantwortung dafür, dass „der Markt“ draußen weiß, dass die eigene Firma bzw. das eigene Team gerade neue Leute sucht und warum es der beste Job der Welt ist für die superfuncompany zu arbeiten.

Es ist ja kein Geheimnis: Die persönliche Empfehlung ist immer noch das beste, weil glaubwürdigste Marketinginstrument. Wenn es darum geht, die eigene Firma zu beschreiben, sind Menschen erstaunlich ehrlich und transparent, im Guten wie im Schlechten.

Wenn es also Etwas über die superfuncompany zu erzählen gibt, dann raus mit der Sprache. Get the word out! Dabei ist es immer eine gute Idee, potentielle Bewerber zu internen, aber auch externen Veranstaltungen einzuladen, um mit möglichen Bewerbern in Kontakt zu kommen. Wenn dann auch noch andere Kollegen da sind, hat sich die Kontaktfläche nochmal erhöht. Das ist wichtig. Jede Gelegenheit sollte genutzt werden, möglichen Interessierten einen Eindruck zu verschaffen.

Gespräch: Die Bewerbungsgespräche führen die Kollegen, gerne auch der Chef, wenn er denn kompetent im inhaltlichen Sinne ist. Grundsätzlich kann jeder Mitarbeiter diese Gespräche führen; die Erfahrung zeigt, dass manchen Kollegen dieser Job mehr liegt oder mehr Spaß macht als anderen und sie deswegen das Vertrauen von den Kollegen bekommen, diese Gespräche für das Team zu führen. Wie auch immer, das sollte im Team diskutiert und dann verbindlich geklärt werden. Wie viele Gespräche braucht es? Es sollten genug sein, um einen repräsentativen Eindruck vom Bewerber zu bekommen, also 7. 🙂

Weitere Faktoren sind natürlich zeitliche Kapazitäten und die Größe des Teams, in das der Bewerber kommt. Das Team sollte sich dafür in jedem Fall ausreichend Zeit nehmen bzw. zur Verfügung stellen. Die Auswahl von neuen Kollegen verdient die größtmögliche Aufmerksamkeit. Keine Kompromisse bei diesem wichtigen Thema! Um ein Gespräch auf Augenhöhe führen zu können, sollten es jeweils Einzelgespräche sein. Ein gutes Gespräch zu führen heißt natürlich auf standardisierte Fragebögen zu verzichten und auch dem Bewerber ausreichend Gelegenheit zu geben Fragen zu stellen. Es handelt sich also weniger um ein „Interview“, sondern um ein Kennenlernen und beidseitigen Erwartungsabgleich. Vielleicht wie bei einem Date. Peer Recruiting schärft die Sinne dafür, dass es für beide Seiten passen muss.

Probearbeiten: Parallel zu den Bewerbungsgesprächen (oder auch anschließend) kann Arbeiten auf Probe vereinbart werden. Für beide Seiten eine gute Chance weitere wichtige Informationen zu sammeln: Der Bewerber kann die tatsächlichen Arbeitsbedingungen einem Praxistest unterziehen: Wie sind die Kollegen? Wie ist die Stimmung, die Kultur? Wie wird hier zusammengearbeitet? Der Bewerber kann hier jeden ihm wichtigen Punkt nochmal genau prüfen. Dazu kommen Gespräche beim Mittagessen, an der Kaffeemaschine, wo unter Umständen ganz andere „Wahrheiten“ auf den Tisch kommen. Die zukünftigen Kollegen auf der anderen Seite sehen den Bewerber bei der Arbeit und bekommen zusätzliche Hinweise auf Arbeitsweisen, Kompetenzen, Kommunikation- und Teamfähigkeit, und letztlich ein deutlich besseres Gefühl, ob die Chemie stimmt. Denn bei aller fachlichen Qualifikation, am Ende scheitert es doch meistens an dem guten oder unguten Gefühl, das man hat. Gehalt: Ein für beide Seiten aufschlussreiches Kennenlernen macht es notwendig, dass beide Seiten möglichst viel voneinander erfahren, also im Umkehrschluss auch preisgeben.

Nicht nur über inhaltliche Themen (Skills, Erfahrungen, Produkte, Kunden, etc.), sondern auch beim lieben Thema Geld. Beim Gehalt scheiden sich bekanntlich in Deutschland immer noch die Geister, auch wenn sich auch hier langsam etwas verändert. Wir alle kennen die Frage nach der „Gehaltsvorstellung“ des Bewerbers, wobei dies in klassischen Bewerbungsverfahren fast immer eine Einbahnstraße ist. Der Bewerber lässt die Hosen runter, das Gegenüber macht sich Notizen und sagt „Aha“ und „Soso.“ Der Bewerber erfährt in der Regel nichts oder nur wenig darüber, wie seine Vorstellungen zum Gehaltsniveau seiner Kollegen passen. Und kommt auch gar nicht erst auf die Idee danach zu fragen. Nimmt man die Idee eines beidseitigen Erwartungsabgleichs auf Augenhöhe ernst, dann kann sich eine Diskussion über das Gehalt an folgenden Fragen orientieren: Was braucht der Bewerber? Was kann der Bewerber jetzt (zum Zeitpunkt der Bewerbung) auf dem freien Markt verdienen? Was verdienen seine Kollegen, mit denen er jetzt die Gespräche führt? Und zum Schluss die alles entscheidende Frage: Was kann die Firma sich leisten?

Einstellen: Nachdem alle Gespräche geführt und das Probearbeiten beendet wurde, kommt das Team (oder die an den Gesprächen beteiligten Mitarbeiter) zusammen, um Eindrücke, Wahrnehmungen, (Bauch)Gefühle und die daraus gezogenen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zu teilen. Hier kommt alles auf den Tisch und dann muss eine Entscheidung getroffen werden. Das Team verständigt sich vorher auf ein Entscheidungsprinzip: Einstimmigkeit oder Konsens oder anders? Grundsätzlich zeigt sich, dass knappe Entscheidungen sehr problematisch sind, während bei Einstimmigkeit natürlich alle Zweifel ausgeräumt sind. Das Team sollte das vorher in aller Ruhe diskutieren. Je länger die Gespräche dauern, je kontroverser die Meinungen sind und je schwieriger die Entscheidung, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Bewerber womöglich nicht passt. Hier braucht es Konsequenz und den Mut zum klaren „Nein.“ Ein Vetorecht, so man sich darauf verständigt, setzt auf das Verantwortungsbewusstsein jedes einzelnen Mitarbeiters. Gleichzeitig wertet es die Beteiligung an diesem zwar zeitaufwändigen, aber für das Unternehmen so ungemein wichtigen Prozess der Personalauswahl auf, wenn theoretisch jede/r Beteiligte „blockieren“ kann.

Onboarding: Peer Recruiting nimmt das gesamte Team in eine ganz andere Verantwortung, als wenn der/die Neue vom Chef eingestellt wurde und dem Team quasi „in den Schoß fällt“. Mitarbeiter, die persönlich daran beteiligt waren, einen neuen Kollegen einzustellen, sind von Beginn an näher dran. Sie können jederzeit helfen. Intervenieren. Reden. Oder einfach nur ein Ohr schenken. Was auch immer, die Antennen sind aufgestellt.

Und der Bewerber hat von den Bewerbungsgesprächen her bereits vom Start weg deutlich mehr direkte, ihm bekannte Ansprechpartner. Ein win-win für beide Seiten. Und aus Sicht des Teams eine goldene Gelegenheit, Feedback zu bekommen. Was denkt der/die neue über unsere Kultur? Also wie es wirklich ist. Was fällt auf?

Personalverantwortung: Peer Recruiting verteilt Personal- und Führungsarbeit innerhalb der Organisation an die Stellen, die Bedarf haben. Alle Mitarbeiter sind in der Verantwortung dazu beizutragen, dass der Laden läuft. Führung ist nicht Chefsache (weil der Chef bei der Einstellung des neuen Mitarbeiters gar nicht involviert war), sondern alle sind an Führungsarbeit beteiligt. Personalarbeit ist nicht mehr ausschließlich Sache von HR, sondern viele sorgen und kümmern sich. Und natürlich endet die Personalverantwortung im Peer Recruiting nicht mit der Einstellung des neuen Kollegen. Passt es wider Erwarten doch nicht, ob noch in der Probezeit oder danach, dann muss das Team erneut eine Entscheidung treffen. Nämlich, ob man sich nicht doch wieder trennen muss. Sicher, das ist für alle Parteien keine einfache Angelegenheit, aber gehört nun mal zum Arbeitsleben dazu.

Wie bei der Einstellung ist auch der Trennungsfall eine Entscheidung, die das Team und nicht der Chef treffen muss. HR ist auch hier nur unterstützender Begleiter und Ratgeber in arbeitsrechtlich relevanten Fragestellungen.

Aber Achtung: Eine Trennung in der Probezeit ist kein Beinbruch. Wer Arbeiten auf Probe vor der Vertragsunterschrift für eine gute Sache hält, der sollte eine Trennung noch in der Probezeit mit der nötigen Gelassenheit sehen. Sie ist genau dafür da, dass beide (!) Seiten überprüfen können, ob es mit der Zusammenarbeit passt oder nicht. Auch der neue Mitarbeiter hat die Möglichkeit fristlos zu kündigen – und das ist gut so. Ein Arbeitsverhältnis sollte immer eine Zusammenarbeit zum beiderseitigen Vorteil sein. Ist es das nicht, dann sollte man sich im Guten trennen können. Am Ende ist es genau diese Freiheit, die bindet! Peer Recruiting schafft im gesamten Rekrutierungsprozess – von der Einstellung bis zur möglicherweise notwendigen Trennung in der Probezeit oder gar Kündigung – bei den daran beteiligten Mitarbeiter ein klares Bewusstsein für die Verantwortung, die sie gegenüber dem Team und damit dem gesamten Unternehmen haben. Es ist damit ein unverzichtbarer Bestandteil von Selbstorganisation in Unternehmen.

Unsere Meetup ORGANEO Antipattern Night gibt in regelmäßigen Abständen die Gelegenheit Themen wie Rekrutierung oder auch Employer Branding (das Antipattern im Monat Februar) weiter gemeinsam zu thematisieren.

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